In ihrer Graphic Novel „Die Frau als Mensch“ wirft die Comiczeichnerin, Autorin und Illustratorin Ulli Lust einen scharfsinnigen Blick auf die Rolle der Frau in den frühesten Epochen der Menschheitsgeschichte – und räumt dabei mit hartnäckigen Klischees über das Leben in der Steinzeit auf. Als Ausgangspunkt dienen ihr zahlreiche Figurendarstellungen aus vorantiken Epochen, in denen weibliche Körper mit betonten Brüsten und sichtbaren Geschlechtsmerkmalen dominierten. Von insgesamt 702 bekannten steinzeitlichen Ganzkörperabbildungen lassen sich lediglich 74 eindeutig als männlich identifizieren.
Da Artefakte und kunstvoll ausgestattete Gräber oftmals die einzigen Zeugnisse steinzeitlicher Kulturen darstellen, waren sie lange Gegenstand wissenschaftlicher Annahmen. Frühere Forschungsansätze gingen davon aus, dass es sich vornehmlich um Bestattungsstätten männlicher Jäger handle – eine These, die vom damaligen Gesellschaftsbild geprägt war und durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegt wurde.
Neben diesen kulturellen Aspekten zieht Lust auch die biologische Verhaltensforschung heran, insbesondere Studien zu Schimpansen und Bonobos. Während Schimpansen ein konkurrenzbetontes, männlich dominiertes Sozialverhalten zeigen, leben Bonobos in kooperativen Strukturen mit weiblicher Führungsrolle. Aus dieser Gegenüberstellung leitet Lust die Theorie ab, dass der Mensch Verhaltensmuster beider Arten in sich trägt. Gerade die Kooperation der Menschen untereinander sei ein entscheidender Faktor für das Überleben der Menschheit gewesen und stelle damit die gängigen Narrative vom jagenden Mann und der häuslich verweilenden Frau infrage.
Eine besondere Rolle spielen dabei auch die figürlichen Kunstwerke aus dem UNESCO-Welterbe „Höhlen und Eiszeitkunst der Schwäbischen Alb“, die als erste bekannte Darstellungen ihrer Art gelten. Im Fokus steht die Venus vom Hohle Fels, die als die erste Darstellung eines weiblichen Körpers gilt.
Durch die gelungene Mischung aus persönlichen Anekdoten, sorgfältiger wissenschaftlicher Einordnung und künstlerischer Erzählweise macht Ulli Lust ein vielschichtiges Thema aus Kulturgeschichte, Verhaltensbiologie und Urgeschichte auch für Leser*innen ohne Vorkenntnisse zugänglich. Zurecht hat Ulli Lust den Deutschen Sachbuchpreis 2025 für dieses Buch erhalten.
„Die Frau als Mensch“ Ulli Lust
Verlag: Reprodukt
ISBN: 978-3-95640-445-0
Hardcover; 256 Seiten
Preis: 29,00 Euro